« Zurück zur Übersicht Heft Nr.3 (Jg. II, H.1/2007) (ISSN 1862-9695; ISBN 978-3-8322-6088-0) Georg W. Oesterdiekhoff Die Entstehung der Industriemoderne in Europa. Der strukturgenetische Erklärungsansatz (S. 9-35) Der vorliegende Ansatz versteht die Industriemoderne als eine entwicklungspsychologisch zu fassende Kulturstufe, die aus einer Wechselwirkung von sozialen Anreizen einerseits und höherstufig organisierten Kognitionen und Mentalitäten andererseits entstanden ist. Das formal-operationale Denken, das sich seit der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit und der Aufklärung Bahn bricht, hat menschliches Denken und Handeln in umfassender Weise transformiert. Diese Transformation hat sich nun in allen Bereichen menschlicher Lebensäußerungen ausgewirkt, was erklärt, weshalb die Industriemoderne in Kunst, Wissenschaft, Ökonomie, Justiz, Politik und Sozialbeziehungen Strukturen etabliert hat, die umfassend die zuvor gegebenen archaischen Niveaus transzendiert haben. Die Industriemoderne ist daher als eine entwicklungspsychologisch meßbare höhere Kulturstufe im Verhältnis zu den Gesellschaften zu begreifen, welche man mit einer gewissen Berechtigung als traditionelle bzw. vormoderne Gesellschaften klassifiziert hat. Gerd Vonderach Ignaz Jastrow - Pionier der Arbeitsmarkt-Berichterstattung (S. 36-61) Ignaz Jastrow (1856-1937) war einer der vielseitigsten, produktivsten und kreativsten Gelehrten des deutschen Kaiserreichs. Der Historiker und Staatswissenschaftler war Herausgeber zahlreicher fachlich führender Jahrbücher und Zeitschriften, Gründer der Handelshochschule Berlin und Professor an der Berliner Universität. Seine Arbeitsinteressen erstreckten sich über Geschichtswissenschaft, Staatslehre, Verwaltungswissenschaft, Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Sozialpolitik. Sein Engagement als Sozialliberaler fand unter den damaligen Liberalen wenig Anklang. Innerhalb seines sozialpolitischen Engagements beteiligte sich Jastrow Ende des 19. Jahrhunderts an der sogenannten "Arbeitsnachweisbewegung" zur Ausbreitung und Koordinierung des noch wenig entwickelten Arbeitsvermittlungswesens. Seit 1896 begann er in privater Initiative trotz schwacher Datenausgangslage mit einer regelmäßigen Arbeitsmarkt-Berichterstattung, die sich seitdem in Deutschland und anderen Ländern und inzwischen weltweit durchsetzte und in ihrer Begrifflichkeit und Methode vorbildlich wirkte. Als liberaler Verfechter des Vorrangs gesellschaftlicher Selbstorganisation geriet Jastrow schließlich an den Rand der auf den Staat fixierten Entwicklung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Anton Sterbling Identität und Ethnizität. Das Beispiel der Banater Schwaben (S. 62-83) Zunächst wird eine analytische Präzisierung des Begriffs der "kulturellen Identität" vorgenommen, die als ein wesentliches Moment des Zusammenhalts sozialer Verbände aufgefaßt wird und für die eine variable Konfiguration bestimmter Elemente wie "komplementäre Kommunikationsgewohnheiten", ethnisches Selbstverständnis, objektivierte Wert- und Wissensbestände, weichenstellende historische Schlüsselereignisse, spezifische Formen der Selbst- und Fremdwahrnehmung u.ä. konstitutiv erscheinen. Welche Bedeutung einzelnen Elementen zukommt, ist zwar variabel, dennoch wird kulturelle Identität von uns nicht ausschließlich als Prozeß sozialer Konstruktion, sondern als Ergebnis spezifischer historischer Ausgangs- und Randbedingungen gesellschaftlicher Entwicklungen aufgefaßt. Unter diesem Blickwinkel wird sodann die kulturelle Identität der BanaterSchwaben als paradigmatischer Fall untersucht, wobei die spezifischen Ausprägungsformen, Spannungsmomente und Entwicklungstendenzen der kulturellen Identität der Banater Schwaben nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Zwar hat es grundsätzlich verschiedene Ansätze und Ausformungsmöglichkeiten dieser kulturellen Identität gegeben, dennoch ist es kein Zufall, daß weder die traditionale Identitätsbestimmung Bestand noch das rumänisch-sozialistische Identitätsangebot weitreichende Realisierungsaussichten hatte, sondern die auf die Bundesrepublik Deutschland als "Bezugsgesellschaft" ausgerichtete Identitätsentwicklung für den größten Teil der Banater Schwaben maßgeblich wurde. Rita Garstenauer Zwischen Hofchronik, Amateurliteratur und Reportage. Autobiographisches Schreiben über ländliche Vergangenheit (S. 84-101) Das autobiographische Schreiben von Menschen ländlicher Herkunft ist weniger eine rare Sensation als eine verbreitete Praxis, die an verschiedene Traditionen anknüpft. Um diese zu erschließen, wurden Informationen über rund 340 Autorinnen und /Autoren und deren Texte mittels Korrespondenzanalyse untersucht. Ergebnis sind zwei Dimensionen, welche die Praxis des Schreibens strukturieren. Die erste Dimension ist bestimmt von Nähe oder Fremdheit gegenüber dem Publikum; die zweite vom schreiberischen Engagement, mit dem über Vergangenes berichtet wird als nostalgische Erinnerung für einen kleinen Kreis oder als kritische Reportage für ein Buchpublikum. Ländliche Autobiographik stellt sich somit als ein Feld des wenn auch marginalen literarischen Produzierens dar, in dem die Legitimität der Autorschaft durch verschiedene, nachverfolgbare Hierarchien und Distinktionen geschaffen wird. Für den Umgang mit autobiographischen Quellen zur ländlichen Vergangenheit heißt das nicht nur, daß sie in ihrer Eigenschaft als literarische Texte ernstgenommen werden müssen, sondern daß sie als solche auch kontextualisiert werden können. |